Bis zum Jahr 1890 war Darmstadt von Arheilgen aus nur zu Fuß zu erreichen. Das änderte sich mit der Dampfeisenbahn, die dann zwischen der großherzoglichen Residenz und ihrem nördlichen Vorort Arheilgen in Betrieb ging. Durch diese neue Anbindung konnten die Arheilger Bürgerinnen und Bürger plötzlich bequem in die Darmstädter Innenstadt gelangen, um dort ihre Einkäufe zu erledigen. Noch im gleichen Jahr war auch die Frankfurter Innenstadt mit der Eisenbahn erreichbar geworden und ebenfalls 1890 gründete sich die Arheilger Spar- und Darlehnskasse, Vorläufer der heutigen Darmstädter Volksbank Darmstadt-Südhessen eG.
Vermutlich hatten alle drei Ereignisse etwas damit zu tun, dass sich am 01. August 1890 auch der Gewerbeverein Arheilgen gründete, als eine Schutzgemeinschaft für Arheilger Handel und Gewerbe.
Grundgedanke des Vereins war es damals wie heute, die heimische Wirtschaft zu fördern, deren Belange zu unterstützen und zum Wohle des gesamten Stadtteils beizutragen. Und so lag es quasi auf der Hand, dass einige der Vereins-Mitglieder dann auch politisch aktiv wurden. Man wies auf Missstände und Probleme hin und sah sich als Sprachrohr gegenüber dem Magistrat der Stadt Darmstadt, nachdem Arheilgen 1937 zwangseingemeindet wurde.
Damals: Gewerbe zur Jahrhundertwende
Spannende Einblicke in die damalige Arheilger Wirtschaftslage ermöglicht ein Buch aus dieser Zeit: Dort sind sämtliche Geschäfte und Handwerksbetriebe, die 1890 in der Gemeinde Arheilgen ansässig waren, in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. So gab es beispielsweise zwei Handwerksmeister, die den Beruf des Küfers ausübten, zwei Webstühle, drei Wagnereien, drei Schmiede und drei Sattlergeschäfte. Auch mehrere Müller und Ziegler waren damals in Arheilgen aktiv, diese Berufe gibt es heute ebenfalls nicht mehr.
Was es allerdings heute noch gibt, sind die Metzger. 1890 waren es sechs, und bei vieren stand der Hinweis “schlachtet nicht selbst”. Eine wichtige Information für die Arheilger Bürgerinnen und Bürger, denn damals zog jeder, der konnte, ein Schwein auf – auch die kleinen Leute. Die Hausschlachtung erledigte dann ein Metzger aus der Bekanntschaft, quasi als Nachbarschaftshilfe, damit umging man eine kostspielige Konzession. Und das Fleisch wurde als Jahresvorrat in die Rauchkammer gehängt oder in Laken eingelegt. Frischfleisch kam ja damals nur an Sonntagen auf den Tisch.
Gut vertreten war das Bäckerhandwerk: 1890 sind neun Bäckereien verzeichnet für die 3.500 Einwohnerinnen und Einwohnern. Da es in den Häusern keine Backöfen gab – die Grafen von Katzenellenbogen hatte das schon früh verboten, wegen des großen Holzverbrauchs – herrschte am Wochenende emsiges Treiben beim Bäcker, wenn der den gebrachten Teig “aufmachte” oder wenn der große Kuchen auf den Kopf gesetzt und nach Hause getragen wurde.
Eine weitere wichtige Säule der Versorgung waren die „Spezereiläden“ – ihr seltsamer Name kommt vom Gewürzhandel. Meist wurden neben den Spezereien auch „Kurzwaren“ geführt: nützliche Dinge, Kleinigkeiten, die damals im Alltag gebraucht wurden. In zehn solcher Gemischtwarenhandlungen ruhte in friedlicher Nachbarschaft vieles eng beieinander, von Heringen über Seife bis zu Stumpen und Kautabak.
Ein besonderes Schlaglicht auf die wirtschaftliche Lage in Arheilgen werfen die Konzessionen für den Alkoholausschank. Dabei ist nicht so sehr die Zahl der zehn geführten Gastwirte und „Bierzapfer“ auffällig, sondern die Menge von Zulassungen für den Verkauf von Flaschenbier und Spirituosen. Mancher Arheilger räumte seine Wohnstube zur Gastwirtschaft um und versorgte von dort aus die Nachbarschaft. Die letzte Gaststube dieser Art – der Kühne Steppes – schloss erst Anfang 2000.
Es herrschte damals die viel beklagte Unsitte, dass die Männer nach der Arbeit gern die Kneipen aufsuchten; nicht selten, um die Arbeit zu Hause zu vergessen. Das Arheilger Geschäftsleben war sowieso stark auf die Männergesellschaft eingestellt: Vier Barbiere sorgten für die männliche Haarpflege – aber die Frauen bedienten sich zu Hause selber mit Kamm, Bürste und Brennschere. Sieben Schneidermeister gewandeten die Arheilger Bürger – aber nur die Männer, denn es waren Herrenschneider. Die Frauen schneiderten für sich und die Mädchen die Kleider selber oder sie holten sich eine Näherin ins Haus.
Eine wichtige Rolle spielten in der damaligen Bekleidungsbranche auch die Schuhmacher. Nicht weniger als fünfzehn Werkstätten gab es im Ort, um die getragenen Schuster zu „Riestern“ oder neues Schuhwerk anzupassen.
Nicht zu vergessen in der früheren Arheilger Geschäftswelt: die Berufsgruppe des Bauhandwerkes. Drei Maurermeister bauten den Arheilgern ihre Häuser, Selbsthilfe im Hausbau war damals unbekannt. Ganze Straßenzüge wurden in dem schnell wachsenden Dorf von den Maurerfirmen in kurzer Zeit hochgezogen und Käufer ließen nicht lange auf sich warten. So fanden auch fünf Weißbindergeschäfte immer genügend Arbeit und guten Verdienst, und die beiden Arheilger Dachdecker hatten vermutlich alle Hände voll zu tun. Für Inneneinrichtungen und Glaserarbeiten waren acht Schreinereien zuständig. Allerdings ging es meistens um Reparaturen, denn im neunzehnten Jahrhundert nutzen man das Mobiliar üblicherweise mehrere Generationen lang.
Der am stärksten vertretene Beruf in Arheilgen im Jahre 1890: Hausierer! Nicht weniger als achtzehn Vertreter des konzessionierten Bauchladengewerbes hatten hier ihren Wohnsitz. Daneben verschwinden fast die übrigen ambulanten Händler, wie Viehaufkäufer, Getreidehändler oder Eierverkäuferinnen.
Es gab 1890 auch schon ein richtiges Industrieunternehmen in Arheilgen. Es war die „Nudelfabrik“ an der Chaussee nach Darmstadt.
Der Arheilger Gewerbeverein und seine damaligen Aufgaben
Natürlich waren die Aufgaben des Gewerbevereins damals noch andere als heute. Der Verein begann seine Arbeit zum Beispiel mit der Gründung einer Sonntagszeichenschule – deshalb auch der Lehrer bei den 44 Gründungsmitgliedern. In dieser Schule wollte man den Nachwuchs aus dem Handwerk fördern und weiterbilden. Ganz im Sinne der Gemeindeverwaltung Arheilgen, die dies begrüßte und auch nach Kräften förderte.
Auch in Sachen Wirtschaftsförderung war man aktiv: Die erste lokale Gewerbeschau fand 1907 statt – vom 31. August bis 2. September, im Saal des Schwanen. Am 1. September erhob man einen Eintritt von 20 Pfennig und am folgenden Tag kostete es 10 Pfennig, außerdem verkaufte man 2.000 Lose für je 50 Pfennig. So lieferte die Ausstellung einen Gewinn von 16.217,01 Mark, die als Fond zur Erbauung einer Gewerbeschule angelegt wurden.
Die großen Verdienste und offensichtlichen Erfolge, die der Gewerbeverein mit dieser Schule hatte, lassen sich daran bemessen, dass der Gemeindevorstand das Kirchenschulhaus in der damaligen Dieburger Straße dem Ortsgewerbeverein übereignen wollte. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges macht dieses Vorhaben leider zunichte.
Nach Ende des 1. Weltkrieges ging die Sonntagsschule als Gewerbeschule in den Besitz der Landes Hessen über. In den folgenden Jahren sah der Ortsgewerbeverein seine Hauptaufgabe in der Vorbereitung und Durchführung von Gesellen- und Meisterprüfungen, den erfolgreichen Abschluss, und die Verleihung der Gesellen- und Meisterbriefe.
Auch der Ortsgewerbeverein verfiel im 3. Reich der sogenannten „Gleichschaltung“.
Einige ältere Mitglieder, wie z.B. die Herren Emil Schäfer, Georg Büttner und Christian Vöglin gaben nach dem Krieg den Anstoß zur Neugründung – sie galten als Hauptinitiatoren für einen neuen Gewerbeverein.
Am 28. September 1949 wurden auf Veranlassung durch Amtmann J. Wolf die Arheilger Geschäftsleute zur Neugründung eines Ortsgewerbevereins aufgerufen. Von damals rund 300 Handwerkern und Gewerbetreibenden kamen aber nur 40. Doch 37 der Anwesenden unterzeichneten an diesem Abend noch ihre Mitgliedschaft; Herr H. Storck, Kaufmann, Wilhelm Spengler, Elektromeister und Karl Andres II, Spenglermeister wurden zum vorläufigen Vorstand gewählt.
Am 4. Oktober 1949, also nur eine Woche später, wurde zur ersten großen Sitzung des neu gegründeten Ortsgewerbevereins eingeladen: Die Mitgliederzahl war innerhalb einer Woche von 37 auf 79 angestiegen. Zum 1. Vorsitzenden wählte man Herr Philipp Rühl, Maurermeister, 2. Vorsitzender wurde Herr Heinrich Anthes der 13. und Schriftführer Herr Georg Merlau, Direktor der Vereinsbank Arheilgen. Ein monatlicher Beitrag von einer Mark wurde festgelegt.
An diesem Abend beschloss man außerdem, dass noch im gleichen Jahr eine Weihnachts-Gewerbeschau mit Tombola stattfinden sollte, vom 26. November bis 4. Dezember 1949. Zusätzlich wurde für den 10. Dezember 1949 eine Modenschau mit Gründungsfeier vereinbart. Die Schirmherrschaft bot man Herrn Oberbürgermeister Metzger an.
Und am 4. Dezember 1949 plante man direkt den nächsten Schritt: zum 60-jährigen Jubiläum, im Jahr 1950, sollte eine große Gewerbeschau durchgeführt werden – mit Aussstellung der Gesellenstücke der Herbstgesellenprüfung und verbunden mit einem Schaufensterwettbewerb.
Es ging nicht nur um wirtschaftliche Themen:
Grundgedanke des Gewerbevereins Arheilgen war es immer, die heimische Wirtschaft zu fördern, gerechtfertigte Belange zu unterstützen und hier zum Wohle des ganzen Stadtteils beizutragen. Aus diesem Grunde wurden Mitglieder des Gewerbevereins auch politisch aktiv.
Zu den damaligen Problemen zählten beispielsweise örtliche Verkehrsfragen, Straßenherstellung, Verbesserungen für die Kanalisation, Müllabfuhr und ähnliche Themen. Viele Vorschläge, wie die Gestaltung der Reitbahn oder eine Bedürfnisanstalt, scheiterten damals aufgrund der stets angespannten Finanzlage der Stadt Darmstadt. Auch mit der Bundespost wurde Kontakt aufgenommen und eine wesentliche Verbesserung erzielt.
Persönlichkeiten im Vorstand:
Hier die Namen aller Vorsitzenden in der langen Geschichte des Gewerbevereins Arheilgen:
Bürgermeister Peter Benz der 9.: Gründer und 1. Vorsitzender vom 1. August 1890 bis 1895. 1895 bis 1920: Spenglermeister Johannes Benz, 1921 bis 1931: Tapeziermeister Heinrich Kunz, ab 1931 übernahm Phillip Rühl den Vorsitz.
Amtmann Wolf: Neugründung am 28. September 1949, Herr Phillip Rühl: 1. Vorsitzender nach Neugründung Ende 1949 bis 1953, Herr Georg Merlau: 1. Vorsitzender ab 1953 bis 1957, Walter Volz führte den Verein bis 1959, von 1959 bis 1965 hatte Karl Andres das Amt inne. Karl Weigand war von 1965 bis 1980 Vorsitzender, 1973 kamen die ersten Frauen in den Vorstand – es waren Sigrun Büttner und Inge Fetten.
Bertold Becker trat 1980 an die Spitze des Vereins – den er bis 1985 führte. Unter seiner Ägide ging der Verein wieder neue Wege für Arheilgen. Unvergessen sind seine „Oarhelljer Gespräche“, die immer brisante Themen zum Inhalt hatten. Oder die Verkehrszählung Weiterstädter Straße – zum Industriegebiet – die Durchfahrt war ja vor vielen Jahren noch frei. Hier konnte Berthold Becker die hohe Anzahl der LKWs nachweisen.
Der Ehrenvorsitzende, Herr Karl-Heinz Dauber führte den Verein bis zum Jahr 2004 und prägte den Stadtteil mit. Unter seiner Führung wurde die Heag-Halle, seit 1983 von der Stadt Darmstadt angemietet, sehr intensiv genutzt. In seiner Amtszeit wurde das Konzept der Gewerbeschau umgestellt. Viele Gewerbeschauen, Weihnachts- und Ostermärkte sowie Oktoberfeste und Feste der Vereine wurden mit der Arheilger Bevölkerung gefeiert. Karl-Heinz Dauber pflegte als einer der ersten und auf Dauer als der Unermüdlichste den Kontakt mit der Kreishandwerkerschaft – der Partnerstadt Freiberg. Und er initiierte 1991 die Arheilger Weihnachtsbeleuchtung.
Bernd Wiegmann war Vereinsvorsitzender von 2004 bis 2014 und in die Umgestaltung unseres Ortes im Zuge der „Neuen Wege für Arheilgen“ entscheidend eingebunden. Ebenso hat er in seiner Zeit als Gewerbevereinsvorsitzender alles dafür getan, dass der Vollversorger so entstand wie er sich heute präsentiert – ein absoluter Glücksfall für Arheilgen.
Und noch ein paar Anekdoten aus alten Protokollen:
Auszug aus dem Protokoll der Vorstandssitzung vom 8. März 1894
„…der Vorsitzende gibt bekannt, dass die von der Darlehnskasse für Schüler der Handwerksschule zur weiteren Ausbildung 50 Mark eingegangen sind.
Zu 1. Wird ein Schreiben des Ortsgewerbevereins Darmstadt zur Kenntnis gebracht, wonach durch die Ortsgewerbevereine des Großherzogtums aus Anlass der Vermählung Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs Ernst Ludwig demselben seitens der Ortsvereine ein Geschenk darzubringen versucht werden soll.
Zu 2. Der Vorstand beschließt, zu der Anschaffung eines Geschenkes für Seine Königliche Hoheit, Großherzog Ernst Ludwig den Betrag von 15 Mark zu bewilligen.“
Unter weiteres wurde vermerkt: „Das Vereinsmitglied Johanns Romig wurde wegen Nichtzahlung der Vereinsbeiträge aus dem Gewerbeverein ausgeschlossen.“
Vorstandsitzung vom 13. April 1899
„Tagesordnung: Vorlage des Ergebnisses der von der chemischen Versuchsanstalt Darmstadt unternommenen Untersuchungen des Wassers der sechs Brunnen.
1. Nach dieser Untersuchung und der darüber vorliegenden Tabellen ist das Wasser keines dieser sechs Brunnen gutes Trinkwasser, ja sogar wird bei einigen Brunnen vom Genuss desselben gewarnt.“
Auch einen Heiratsmarkt gab es damals schon – hier eine Anzeige aus dieser Zeit:
„Suche für meinen einzigen Sohn, Inhaber eines seit 20 Jahren bestehenden größeren Kaufhauses, ca. 200 Mille jährlichen Umsatz, nettes Fräulein mit Vermögen. Mein Sohn ist 27 Jahr alt, katholisch, blond nette Erscheinung, und wird auf hübsche, junge Dame mit Vermögen reflektieren; am liebsten kann Vorstellung im Bade erfolgen!“
Einen besonderen Dank an Frau Ursula Luther für das Übersetzen der alten, in Sütterlin geschriebenen Texte.
Bildquelle: Geschichtsverein Arheilgen